Mehr denn je

Kinoplakat Mehr denn je

Eine junge Frau leidet unter einer Erkrankung der Lunge, bei der das Gewebe vernarbt. Nun muss sie entscheiden, ob sie einer Transplantation zustimmt oder, wie sie es ausdrückt, selbst entscheiden und jung sterben. Die Entscheidungsfindung stellt den Löwenanteil der Handlung dar und dauert rund zwei Stunden.

Hélène möchte die Wohnung nicht verlassen. Erst nach gutem Zureden ihres Freundes Matthieu ist sie bereit, einen Abend mit Freunden zu verbringen. Die Stimmung ist durchwachsen, es wird versucht, mit Hélène umzugehen. Doch die ist wenig angetan vom Verhalten ihrer Clique. Auf die Frage, wie die anderen mit ihr umgehen sollen, hat Hélène keine Antwort, denn sie weiß es nicht. Auch die Aussicht auf eine Spenderlunge stimmt die junge Frau nicht fröhlich. Ihr Partner Matthieu versucht ihr zu verdeutlichen, dass dies ein Hoffnungsschimmer ist – aber Hélène lehnt ab. Sie sucht im Internet nach Leidensgefährten und stößt auf den Blog von Mister. Der teilt im Internet seine Geschichte. Hélène empfindet ähnlich wie Mister und tritt die Reise nach Norwegen an. Dort quartiert sie Bent, wie der Blogger in Wahrheit heißt, in einer Hütte direkt am Fjord ein. Derweil ist Matthieu der Meinung, Hélène sei in einem Hotel untergekommen. Erst nach Tagen erfährt er die Wahrheit und reist seiner Freundin nach.

Kritik

Ein Film über einen todkranken Menschen zu drehen ist ein heikles Unterfangen, denn es steht die Frage im Raum, ob das Thema als Unterhaltung eine gute Wahl ist. Der Kritiker kann nur vermuten, dass Emily Atef (Drehbuch und Regie) versucht hat, einen Teil ihrer eigenen Biografie aufzuarbeiten. Atefs Mutter litt zweiundzwanzig Jahre lang unter Multipler Sklerose und später unter Krebs. So gesehen ist die Beschäftigung mit einem kranken Menschen und dem Tod naheliegend.
Es macht den Eindruck, dass es der Filmemacherin wichtig war aufzuzeigen, dass eine Frau über ihr Leben und somit über ihren Körper selbst bestimmen darf. Also auch die Frage, ob sie einer eventuell lebensverlängernden Maßnahme zustimmt oder diese ablehnt. Leider unterließ es die Drehbuchautorin die Charaktere auszuschmücken.

Als Unterhaltung eingestuft ist der Film aus der Sicht des Kritikers keine Empfehlung. Das liegt zum einen am mangelnden Ausbau der Figuren. Die kränkelnde Hélène hat keine Vita. Der Film verrät nur wenig über ihre (gemeinsame) Vergangenheit (mit Matthieu). Laut Presseheft soll es die Betrachtung der Beziehung sein; der Kritiker kann das aus dem Drama nicht herauslesen. Hélène sucht nach einem Weg, mit ihrer Krankheit umzugehen. Sie weiß, dass sie in absehbarer Zeit sterben wird. Die Möglichkeit einer Transplantation lehnt sie ab. Am Ende hat sie eine Entscheidung getroffen und die Entscheidungsfindung ist die Handlung.

Matthieu ist der Mann an Hélènes Seite, der versucht Zugang zu Hélène zu bekommen. Viel mehr Zeichnung bekommt die Figur nicht. Ebenso wenig der Dritte im Bunde: Bent ist ein an Krebs erkrankter alter Mann, der sich zurückgezogen hat und trotzdem mit der Welt sein Schicksal offen teilt in einem Blog. Dabei verwendet er ein Foto eines fremden Mannes. Der scheint nicht dagegen zu protestieren. Auch Matthieu macht es nichts aus, dass Hélène ihn belügt. Welche Verbindung es zwischen Hélène und Bent gibt, bleibt offen. Beide sind todkrank und sprechen nur wenig und vorsichtig darüber. Ist die Gemeinsamkeit Grund genug, um einen fremden Menschen in sein Haus am einsamen Fjord aufzunehmen? Einer von beiden könnte ein Mörder oder Psychopath sein. Außerdem verwundert es, dass Bent todkrank ist, aber rüstig. Vor seinem Haus gibt es große Brennholzstapel und er sägt in einer Szene Holz. Wenn er die Holzstapel selbst hacken kann, wie schlimm ist dann der Schmerz, von dem er spricht?

Ein weiterer Schwachpunkt: Das sparsame Drehbuch bereichert Vicky Krieps mit ihrem Spiel kaum. Leider kann der Kritiker in der Mehrzahl nicht deuten, was Frau Krieps auszudrücken versucht und so bleibt Hélène für ihn eine Figur, die nicht berührt. Erschwerend kommt hinzu, dass Vicky Krieps und Gaspard Ulliel als Matthieu ihre Rollen zu sehr spielen. Im Zusammenspiel mit den gestelzten Dialogen bleibt der Film unorganisch.
Aufgesetzt wirkt, das Vicky Krieps als Hélène sagt, dass sie Luxemburgerin ist und darum Französisch spricht. Es macht vielmehr den Eindruck, dass es die Rolle nicht bereichert, sondern im Film vorkommt, weil die Regisseurin die Sprach-Begabung ihrer Hauptdarstellerin herausstreichen möchte. Hélène und Bent sprechen Französisch miteinander und gehen immer wieder ins Englische über. Bent gibt an, Französisch während der Arbeit auf einer Ölbohrplattform gelernt zu haben. Was unglaubwürdig klingt.
Insgesamt baut das Drehbuch die Rollen zu wenig aus. Hélènes Rolle beantwortet in erster Linie nur die W-Frage "Wo will ich hin?". Matthieu ist der Partner, der viel guten Willen aufzeigt und scheitert. Bents Rolle bleibt fast ohne Zeichnung. Alles in allem empfindet der Kritiker die Handlung als belanglos. Kollege Stefan formulierte es diplomatischer: Der Film bleibt nicht im Gedächtnis.

Handwerklich ist der Film solide. Die Kamera ist oft nahe an den Gesichtern (was allerdings Frau Krieps wenig unterstützt). Die überlange, intime Szene kurz vor Schluss ist kein Muss. Insgesamt geht die Handlung gleichförmig dahin. Es gibt keine schöne Zeit zu Beginn, sondern der Film eröffnet sofort mit einer leidenden Hélène. Es folgt kein dramatischer Höhepunkt und es ist denkbar, die Überlänge um eine halbe Stunde zu kürzen. Was der Film nicht bietet: Wege aufzuzeigen, wie besser mit der Situation umgegangen werden kann. Um Verständnis für kranke Menschen wirbt er nicht. Und die Belastung derjenigen, die mit Kranken leben, streift die Handlung nur. Wer hofft, Hilfe und Unterstützung für seine eigene Situation zu finden, wird wahrscheinlich enttäuscht, denn "Mehr denn je" ist eine Bestandsaufnahme. Nicht weniger und leider nicht mehr.

Fazit
Der Kritiker streitet nicht ab, dass das Thema des Films für die Filmemacherin wahrscheinlich sehr persönlich und der Film mit Engagement entstanden ist. Die Handlung vermittelt gut, dass unheilbare Krankheiten für Menschen eine Belastung darstellen. Der Kritiker weiß aus eigener Erfahrung, dass es für Betroffene wie für die Angehörigen ein schwieriges, bisweilen extremes Erlebnis ist. Trotzdem: In "Mehr denn je" breitet die Hauptrolle ihr Seelenleben, dem Drehbuch folgend, nicht vor dem Zuschauer aus. Die Hauptdarstellerin spielt eingeschränkt. Die Darsteller machen den Eindruck schlecht geführt worden zu sein. Somit ist der Film um große Kunst bemüht und bietet diese nicht.
Filmkritik: Thomas Maiwald
Wertung: 40 %


Alternativtitel: Plus que jamais • More than ever
Land: DeutschlandFrankreichLuxemburgNiederlande
Jahr: 2022
Laufzeit ca.: 123
Genre: Drama
Verleih: Pandora Filmverleih
FSK-Freigabe ab: 12 Jahren

Kinostart: 01.12.2022
Heimkino: 02.06.2023

Regie: Emily Atef
Drehbuch: Emily Atef • Lars Hubrich

Schauspieler: Vicky Krieps (Hélène Mouchet) • Gaspard Ulliel (Matthieu Mouchet) • Bjørn Floberg (Mister) • Sophie Langevin (Docteur Girlotto) • Valérie Bodson (Mamm) • Jérémy Barbier d'Hiver (Luc) • Marion Cadeau (Audrey) • Yacine Sif El Islam (Mehdi) • Estelle Kerkor (Béné) • Nathalie Man (Zoé) • Baptiste Girard (Vincent) • Tom Linton (Olivier)

Produktion: Xénia Maingot
Szenenbild: Silke Fischer
Kostümbild: Dorothée Guiraud
Maskenbild: Nathalie Tabareau
Kamera: Yves Capes
Ton: Nicolas Cantin
Musik: Jon Balke
Schnitt: Sandie Bompar • Hansjörg Weißbrich

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Bild: Pandora Filmverleih

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20.11.22
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