Between The Lines

Kinoplakat Between The Lines

Indien – eine fremde, farbenprächtige Welt. Unzählige Menschen, viele Religionen, seltsame Sitten und Gebräuche. Grausamkeit und Edelmut wohnen hier dicht beieinander. Es gibt die Superreichen, es gibt die Ausgestoßenen und die unsagbar Armen, die ihre Leben auf den Straßen und den Müllhalden fristen. Auch auf sexuellem Gebiet gibt es dort Dinge, die man sich bei uns nicht vorstellen kann: die Hijras – das sogenannte dritte Geschlecht Indiens.

Mit der Dokumentation "Between The Lines – Indiens drittes Geschlecht" ist dem mehrfach ausgezeichneten Münchner Journalistin und Regisseur Thomas Wartmann eine eindrucksvolle, tief berührende und überaus informative Darstellung einer für europäische Begriffe völlig fremden Welt gelungen. Über die Entstehung dieses ungewöhnlichen und emotional aufwühlenden Films sagte er: "Anfangs war ich eher skeptisch. Zu fremd erschien mir diese Zwischenwelt, komplett unzugänglich, weibliche Seelen in männlichen Körpern, manieriert, schrill. Obszön, provokant, immer umgeben von einem Hauch von Skandal. Ein Freund warnte vor ihren Lebensgeschichten. Die wären meist frei erfunden und eigentlich ginge es ihnen nur ums Geld. Die ersten Recherchen in Delhi, Bombay, Bangalore brachten keine wirkliche Nähe. Sie feierten ihre Kastration als Neugeburt, die Entscheidung, weder Mann noch Frau zu sein, als große Freiheit. Neuer Name, neue Stadt, neues Leben – Menschen, die einen radikalen Schritt vollzogen, ihre Identität gewechselt hatten. Endgültig und radikal, für mich kaum nachvollziehbar. Schon immer hatte mich der Gedanke beschäftigt, wie es wäre, ein anderer zu sein. Aber mehr als intellektuelle Überlegung, eher theoretisch. Hier bewegte ich mich auf einem sehr handfesten und komplexen Terrain, in einem versteckten, korrupten Universum aus Bettelei und Prostitution. Die Hijras leben seit Jahrhunderten im Halbschatten der indischen Gesellschaft, einer verschlossenen Welt, zu der ich als Fremder, und vor allem als Mann, nie Zugang bekommen würde. Ich wollte keinen Film über die Hijras machen, eher mit ihnen, von innen heraus, ohne allwissenden, erklärenden Kommentar. Auf die Dichte der Begegnungen sollte es ankommen, nicht auf die journalistische Vollständigkeit. Dann begegnete ich Anita Khemka, einer Fotografin, einer Inderin – und vor allem einer Frau. Mit ihr hatte ich meinen Zugang gefunden. Sie kannte das "dritte Geschlecht" und beherrschte die Fähigkeit, sich behutsam, ohne Voyeurismus in die Welt unserer Heldinnen hineinzufragen. Mit Anita als Komplizin konnte die Arbeit beginnen."

Und so begleiten wir in dieser Dokumentation die moderne Inderin Anita, die ohne Schminke und ohne bunten Sari ihrer Arbeit als Fotografin nachgeht, wie sie in die versteckte, bunte, exotische, bizarre Welt der Hijras eindringt, sich hineinfragt, selbst überrascht und betroffen ist von den Antworten, den Dingen, die sie sieht und erfährt. Der Film "Between The Lines - Indiens drittes Geschlecht" begleitet drei ganz unterschiedliche Hijras. Drei Menschen, die zu einer indischen Gruppe gehören, die meistens weder eine eindeutig weibliche noch eine eindeutig männliche Geschlechtsidentität haben. Sie sind Dienerinnen der Göttin Bahuchara Mata. Wer von ihr gesegnet ist, hat die Macht des bösen Blicks – aber auch die Kraft, männliche Kinder nach der Geburt zu segnen. Sie leben in Gemeinschaften, die praktisch wie eine Familie aufgebaut sind: die Mutter-Guru steht ganz oben und wird bei Streitigkeiten zurate gezogen, die Tochter-Chela wird von ihr ausgebildet und bringt das Geld heim, das die Gemeinschaft ernährt. Hijras leben in erster Linie von Prostitution und Betteln. Da ist die überschlanke, sehr große Laxmi, laut auffällig, aggressiv. Die extrem dick geschminkte Laxmi mit den farbenprächtigen Saris und klimpernden Schmuckstücken lebt in einer Vorstadt von Bombay. Laxmi verdient ihr Geld mit Prostitution, Betteln – und Tanzunterricht. Denn Laxmi führt ein Doppelleben. Da sie ihre Eltern nicht verletzen will, ist sie daheim immer noch Raju, ein scharfsinniger junger Choreograf in Bollywood. Raju ist ungeschminkt, trägt normale Männerkleidung und wirkt wie ein ganz durchschnittlicher junger Mann. Niemand würde ahnen, dass Raju die Erfüllung seines Lebens als Laxmi findet. Er ist übrigens nicht kastriert, überlegt aber, ob er es vielleicht einmal machen lässt.

Die 18-jährige Rhamba ist eine äußerst aparte Erscheinung und so weiblich – bis auf die etwas raue Stimme - dass niemand auf die Idee kommen würde, dass Rhamba eigentlich als Junge geboren wurde, der mit 10 Jahren kastriert wurde. Sie lebt in einem Tempel und bettelt auf den Straßen von Bombay, ist aber auch sehr raffiniert im Beschaffen von Geld, wenn es um das Entgelt bei der Segnung eines männlichen Babys geht. Nachts tanzt die zierliche und ungemein weibliche Rhamba in einem Nachtclub als Go-Go-Tänzerin. Sie braucht jeden Pfennig, denn sie hat einen Freund, den sie auf dem großen Eunuchenfestival zu sehen hofft. Dort will sie ihn heiraten und es stört sie überhaupt nicht, dass er schon verheiratet ist und zwei Kinder hat. Mit ihm zu leben kommt für sie nämlich gar nicht infrage. Nach der Hochzeitsnacht will sie wieder heim in ihren Tempel und ihr Leben als Hijra fortsetzen. Sie ist von diesem Leben so angetan, dass sie Anita anvertraut: "Ich hoffe, als Hijra wiedergeboren zu werden, nicht als Mann und nicht als Frau." Dabei werden die Hijras im Tod total entwürdigt, wie man im Film erfährt: die anderen Hijras zerren die Leiche durch die Straßen, bespucken sie, beschimpfen sie, und bewerfen sie mit Steinen, damit die Seele keinesfalls als Hijra wiedergeboren wird.

Die dritte Hijra, über die die Dokumentation "Between the Lines – Indiens drittes Geschlecht" berichtet wird, ist die traurigste Gestalt. Asha ist nicht mehr jung wie Rhamba und nicht in zwei Welten erfolgreich wie Laxmi. Die große, kräftige Asha ist traurig und deprimiert, eine Trinkerin, die auf der Straße nächtigt, die sich nicht mehr in ihre Gemeinschaft traut, weil sie Angst hat, dass die Mutter-Guru sie hinauswirft, denn Asha, die im Gegensatz zu den beiden anderen sehr männlich wirkt, kaum geschminkt ist, und nur dunkle Saris trägt, bringt praktisch kein Geld mehr heim. Seit 17 Jahren ist sie Prostituierte und hat sich inzwischen darauf verlegt, an den Stränden entlangzuwandern. Wenn sie dort Liebespaare sieht, bietet sie an, sie gegen Bezahlung zu "segnen". Falls das Paar nicht bereit ist zu zahlen, wird sie ihre Röcke heben und es verfluchen. Denn wer den kastrierten Unterleib einer Hijra sieht, ist verflucht. Anita Khemka, die indische Fotografin, kommt den Hijras sehr nahe. Sie begleitet sie zum Schönheitssalon, wo haarige Beine und Arme mit flüssigem Wachs enthaart werden, wo wuchernde Augenbrauen mit Pinzetten in Form gebracht werden (die meisten Frauen werden das kennen). Sie ist dabei, als eine schon etwas ältere Hijra sich zu der Kastration entschließt, um damit die endgültige Freiheit und Segnung der Göttin zu erlangen. Durch sie erfahren wir, dass der Penis praktisch ohne Betäubung abgeschnitten wird ("tut gar nicht weh, nur wie ein Moskitostich."), dass nichts zur Blutstillung getan wird ("... das hört nach 10 Minuten auf."), dass lediglich nach 2 Tagen Öl darüber gegossen wird. Und, dass die so behandelte Hijra dann ein paar Tage keinen Mann anschauen darf. Wir erfahren dank Anita alles über die Sexpraktiken der Hijras, über die Gründe, warum angeblich 80 % der Männer lieber zu Hijras als zu weiblichen Prostituierten gehen, dass es unter den Hijras keine Eifersucht gibt ("... keiner liebt uns, also müssen wir uns gegenseitig wie Schwestern lieben." ), dass sie nicht miteinander Sex haben ("wir sind doch keine Lesben"), dass die unkastrierten Hijras beim Analverkehr mit Männern keinen Ständer kriegen ("... wir sind doch nicht schwul."). Und wir werden Zeuge des farbenprächtigen, temperamentvollen und ganz und gar fremdartigen Euchnuchen-Festivals, das jedes Jahr stattfindet, und zu dem tausende von Hijras aus ganz Indien anreisen.

Kritik

Thomas Wartmann hat mit seinem Film "Between The Lines – Indiens drittes Geschlecht", zu dem er das Buch schrieb und bei dem er Regie führte, und mit den eindringlichen Bildern von Kameramann Thomas Riedelsheimer eine ganz besondere Dokumentation geschaffen. Eine traditionelle indische Gemeinschaft, von der man bei uns praktisch nichts weiß, wurde hier behutsam und einfühlsam dargestellt, nicht zuletzt dank des grandiosen Einfühlungsvermögens der Fotografin Anika Khemka. Sie hat das Vertrauen der für unsere Augen so bizarren Gemeinschaft von Transsexuellen gewonnen, die sich von den bei uns bekannten Transsexuellen – also Frauen, die in Männerkörpern gefangen sind, oder Männern, die in Frauenkörpern gefangen sind – doch gravierend unterscheiden. Die in Indien Hijras genannten Menschen leben in eigenen, recht disziplinierten Gemeinschaften. Sie bilden Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaften, denen ein Guru vorsteht, die für die materiellen und spirituellen Bedürfnisse ihrer Schülerinnen Sorge tragen muss, und dafür ein Anrecht auf deren Einnahmen und Loyalität hat. Obwohl der Anschluss an eine Hijra-Gemeinschaft für viele transsexuelle Frauen und Mädchen sowie hermaphroditisch Geborenen geradezu zwangsläufig ist, hat er auch stark religiöse Züge.

Einige wenige Hijras versuchen nicht möglichst weiblich zu erscheinen, sondern ihr männliches Erscheinungsbild zu wahren, auch wenn sie Saris tragen. Sie alle verbindet aber die Anhängerschaft an die Göttin Bahuchara Mata, unter deren Schutz sie stehen. Hijras unterziehen sich meistens einer rituellen Kastration. Nur dann gelten sie als ganz von der Göttin angenommen und fähig, wirksam zu segnen und zu verfluchen. Traditionell verdienen Hijras ihren Lebensunterhalt durch Tanzen und Segnungen auf Hochzeiten, bei Hauseinweihungen und nach der Geburt von Söhnen. Doch immer weniger Kunden nehmen diese Dienste in Anspruch und so bleibt den Hijras meistens nur noch die Prostitution.

Die Dokumentation "Between The Lines - Indiens drittes Geschlecht" bringt die Situation, die mit Verzweiflung gepaarte Freiheit, den Stolz und die Angst vor dem Alter, hervorragend und ungeheuer informativ und interessant herüber. Anita Khemka wurde deutsch synchronisiert, die anderen Dialoge etc. laufen mit deutschen Untertiteln.

Fazit
"Between The Lines" ist ein faszinierender aber auch erschütternder Blick in eine fremde, bizarre Welt. Ein Film, der zu anschließenden Diskussionen anregt, der bei Frauen Mitgefühl auslöst, bei Männern aber überwiegend verständnisloses Kopfschütteln. Sehr interessant!
Filmkritik: Julia Edenhofer
Wertung: 70 %


Land: Deutschland
Jahr: 2005
Laufzeit ca.: -
Genre: Dokumentarfilm
Verleih: Stardust Filmverleih
FSK-Freigabe ab: -

Kinostart: 31.08.2006
Heimkino: 02.03.2007

Regie: Thomas Wartmann
Drehbuch: Thomas Wartmann

Produktion: Thomas Riedelsheimer • Thomas Wartmann
Kamera: Thomas Riedelsheimer
Musik: Nils Kacirek
Schnitt: Thomas Riedelsheimer

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Bild: Stardust Filmverleih

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