Im ausklingenden 19. Jahrhundert hofft Rosalie inständig darauf, dass ihr zukünftiger Ehemann sie lieben wird. Die Heilige Kümmernis möge ihr beistehen, denn mit der Heiligen teilt Rosalie eine Zeichnung. Ihr Ehemann Abel, der Rosalie nur wegen der Mitgift akzeptiert hat, ahnt nichts von der Besonderheit seiner zukünftigen Gattin. Zunächst ist er überrascht, dass eine so attraktive und zarte Frau auf den Handel angewiesen ist. In der Hochzeitsnacht entdeckt Abel den Grund und fühlt sich hintergangen. Rosalie ist schwer getroffen. Doch sie ist eine Kämpferin und bereit, das Beste aus der Situation zu machen. Eine Anzeige in einer Zeitung, die eine Frau zur Schau stellt, bringt sie auf eine Idee: Warum nicht die Andersartigkeit zur Geschäftsidee erklären?
Kritik
Die kurze Inhaltsangabe des Verleihs ließ mich zweifeln, ob die Geschichte der Rosalie mich anspricht. Die ersten Filmminuten unterstrichen den Zweifel, denn die Zerbrechlichkeit, mit der Nadia Tereszkiewicz die Rolle spielt, ist schwer zu ertragen. Auch vermisste ich bei den ersten Nahaufnahmen ihres Gesichts die zu erwartenden Bartstoppeln. Doch die Skepsis wich rasch. Rosalie leidet unter einer Hormonstörung, die bei ihr einen Bartwuchs und eine für eine Frau ungewöhnliche Körperbehaarung auslöst. Rosalie ist nicht behaart wie ein Mann – aber ihren Ehemann Abel stößt es ab.
Ihr kommt die rettende Idee, sie vermarktet ihren Damenbart, belebt das Geschäft ihres Mannes und gewinnt an Selbstbewusstsein, entwickelt Ideen, wie das Unternehmen auch in Zukunft florieren kann. Ihr Mann beäugt die Fortschritte skeptisch und lebt in der Ehe nicht mit seiner Frau, sondern neben ihr. Die erträgt den Zustand und kämpft damit sich selbst zu akzeptieren und von der Dorfgemeinschaft akzeptiert zu werden.
Es wird ein langes Ringen, bis Rosalie einige ihrer Träume verwirklichen kann. Immer wieder stößt sie dabei an Grenzen. Manchmal ist nicht klar, ob die Menschen sie aus moralischen Gründen verurteilen oder einige der Männer sie begehren und aus Eifersucht handeln.
Geschildert wird das Drama nicht als Innenschau. Vielmehr reflektieren die Menschen, was in Rosalie und Abel vorgeht, zeigen auf, wo sie stehen. So wird Rosalie als barbarisch und Affenfrau beschimpft. Abel geht dazwischen und verprügelt den Spötter. So stellt er klar, dass er seine Frau zwar nicht akzeptiert, aber sie beschützt. Auf diese Weise setzt der Film Zeichen, die das Publikum deuten muss. Schön gelöst: Es kommt zu vielsagenden Szenen, wie der der weiblichen Solidarität. Ohne darüber zu sprechen, teilen zwei Frauen ihre Schicksale. Rosalie spricht kurz mit einer Kurtisane, begegnet der auf Augenhöhe. Wohl wissend, dass ihr Mann die Prostituierte regelmäßig aufsucht, derweil er seine eigene Ehefrau nicht berührt.
Die Handschrift passt zur gewählten Zeit, in der das Drama spielt, schmälert jedoch auch den Eindruck, wegen der ausbleibenden Innenschau. Eine Chance wird kaum genutzt: Abel ist im Krieg verwundet worden und trägt nun ein Stützkorsett. Er ist eine verwundete Seele wie Rosalie auch. Das bringt die Zwei allerdings nicht näher. Abel benötigt Zeit, um Rosalies äußere und innere Schönheit zu akzeptieren.
Nadia Tereszkiewicz ist gut für die Rolle ausgesucht. Der Bart gibt ihr ein androgynes Aussehen; was immer wieder als Modetrend ausgerufen wurde und wird. Michael Jackson galt beispielsweise als Vertreter des Androgynen. Tereszkiewicz spielt die Rolle gut, Benoît Magimel gibt eine klassische Männerrolle, die ihre Emotionen durch Wut ausdrückt, aber davor zurückschreckt, einer Frau Gewalt anzutun. Trotzdem werden die Rollen nicht modern und bleiben im Rahmen. Der stellt Umstände mit Kleinigkeiten dar. Ganz selbstverständlich arbeiten Kinder. Mehrere Männer des Dorfes hat der Krieg versehrt. Der Fabrikbesitzer ist die graue Eminenz und der Geistliche ein Moralapostel. Die Frauen ertragen es, dass ihre Männer das Bordell besuchen.
Das Szenenbild arbeitet mit gedeckten Farben. Fast so, als spiegele die Tristesse des Dorfes die seelischen Nöte der Bewohner wider. Die Laufzeit ist nicht geschickt gewählt, weil das Thema ab einem Punkt zu verlaufen beginnt. Der Verzicht auf etwa den Handlungsstrang mit der Adoption ergäbe einen kürzeren und damit knackigen Eindruck.
Fazit
Schön, dass hier eine Frau Regie geführt hat, denn ein Mann hätte das Thema wohl kaum so zart umgesetzt. Empfehlen kann ich das Drama allen, bei denen das Stichwort Akzeptanz etwas zum Klingen bringt.
Für die Rolle der Rosalie gibt es ein Vorbild: Clémentine Delait lebte von 1865 bis 1939 und war als "Femme à Barbe" (Frau mit Bart) bekannt.
Filmkritik: Thomas Maiwald
Wertung: 70 %
Jahr: 2023
Laufzeit ca.: 116
Genre: Drama • Historie
Verleih: X Verleih
FSK-Freigabe ab: 12 Jahren
Kinostart: 19.09.2024
Regie: Stéphanie Di Giusto
Drehbuch: Stéphanie Di Giusto • Sandrine Le Coustumer
Schauspieler: Nadia Tereszkiewicz (Rosalie Deluc) • Benoît Magimel (Abel Deluc) • Benjamin Biolay (Barcelin) • Guillaume Gouix (Pierre) • Gustave Kervern (Paul) • Anna Biolay (Jeanne) • Eugène Marcuse (Jean) • Juliette Armanet (Clothilde) • Serge Bozon (Fotograf) • Peri Bourgogne (Augustine) • Lucas Englander (Camilius) • Aurélia Petit (Die Klosterschwester)
Produktion: Alain Attal
Szenenbild: Laurent Ott
Kostümbild: Madeline Fontaine
Maskenbild: Charlotte Berland • Marion Chevance • Angélina Grosse • Aude Thomas
Kamera: Christos Voudouris
Ton: Pierre Mertens • Julien Gerber • Thomas Desjonquères • Eric Chevallier
Musik: Hania Rani
Schnitt: Nassim Gordji-Tehrani
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Bild: X Verleih