Michelle spürt den Herbst ihres Lebens nahen. Sie hat eine erwachsene Tochter und liebt ihren Enkelsohn Lucas. Als Michelle ein ärgerlicher Fehler unterläuft, reißen alte Wunden wieder auf und Tochter Valérie straft sie mit Liebesentzug. Michelle beginnt verzweifelt zu kämpfen.
Michelle hat Paris den Rücken gekehrt und in einem Dorf einen Altersruhesitz gefunden. Von Ruhestand kann jedoch nicht die Rede sein. Michelle lebt ein beschauliches Leben und der angekündigte Besuch von Verwandten deutet an, dass hier nicht alles so idyllisch ist, wie es im ersten Moment scheint. Dann ziehen die ersten Verstimmungen auf, in der Person von Tochter Valérie. Deren Ehe steht vor dem Aus und der Mutter macht sie bittere Vorwürfe. Enkel Lucas versteht nicht, worüber die Erwachsenen streiten und auch das Publikum wird vorerst nicht ins Vertrauen gezogen.
Michelles beste Freundin Marie-Claude kämpft ebenfalls mit Problemen. Ihr Sohn Vincent sitzt eine Haftstrafe ab und Marie-Claude wartet ängstlich auf die Rückkehr des Sohnes. Wird er es dieses Mal schaffen, den rechten Weg einzuschlagen? In einem stillen Moment schüttet sie Michelle ihr Herz aus und meint, als Mütter hätten die Frauen versagt. Ein hartes Urteil, das man als Zuschauer weder bejahen noch verneinen kann, denn die Hintergründe reißt das Drehbuch von François Ozon nur an und die Kunst der Reduktion gelingt nur bedingt. Der Film baut Spannung auf, etwa indem ein Todesfall ungewiss bleibt. Unfall, Mord oder Selbstmord? Die Kamera zeigt den Hergang nicht und die Polizei ist nicht in der Lage, den Fall zu klären.
Leider bleibt auch die Hintergrundgeschichte von der Verstorbenen nebulös. Ob die Vorwürfe, die die Tochter der Mutter macht, begründet sind, arbeitet Ozon nicht aus.
Vincent besucht nachts einen dunklen Ort, an dem sich nur Männer treffen. Vielleicht macht er krumme Geschäfte. Wahrscheinlicher ist, dass er einen Treffpunkt für homosexuelle Männer aufsucht. Jahre später deutet Lucas, mittlerweile Student, Ähnliches an. Er trägt einen Ohrring und hat keine Freundin. Zudem pflegt er ein enges Verhältnis zu Vincent, das in der Vergangenheit intim gewesen sein könnte. Diese vage Zeichnung der Figuren und ihrer Geschichte schwächt den Film auf die Dauer, denn es fehlt der Unterbau. Die Personen sollen mehrdeutig sein oder eine dunkle Seite haben, bleiben jedoch vordergründig. Ist alles aufgedeckt, scheinen die Skandale belanglos. Die Handlung wird zwischenzeitlich beliebig und beginnt zu plätschern. Schade auch, dass Überraschungen fehlen. Die Pilzsuche endet, wie es vorherzusehen war. Wer raucht, stirbt daran.
Weitere Punkte misslingen der Dramaturgie. Da spielt der Todesfall schnell keine Rolle mehr, Trauerarbeit wird kaum geleistet. Dann wird der Fall neu aufgerollt, um abermals zu verlaufen. Marie-Claude bekommt eine niederschmetternde Diagnose und kurz danach ist sie tot.
Leider kann das sehenswerte Schauspiel der zwei alten Frauen die Mankos der Geschichte nur bedingt ausgleichen. Es ist ein Vergnügen, Hélène Vincent als Michelle Giraud und Josiane Balasko als Marie-Claude Perrin zu sehen. Es wäre naheliegend, die Zwei klischeehaft auftreten zu lassen. Stattdessen stehen sie fest im Leben. Michelle arbeitet viel im Haus und im Garten. Kurzfristig hat es den Anschein, als bahnte sich eine Liebesbeziehung zwischen Vincent und Michelle an. Das wäre angesichts von Michelles Auftreten nicht verwunderlich. Als nicht stimmig empfindet der Kritiker die Darstellung der Figur. Angesichts der Vergangenheit erwartete er eine vom Leben gezeichnete oder gebrochene Frau. Stattdessen erinnert Michelle an eine pensionierte Lehrerin. Weniger Zeichnung bekommt Marie-Claude. Eine gestandene Frau und beste Freundin, die zu viel raucht.
Wie gesagt, ist das Schauspiel der zwei Hauptdarstellerinnen sehenswert. Daneben fällt insbesondere Ludivine Sagnier als Valérie Tessier stark ab. Mit ihr hatte Ozon im Jahr 2003 den Thriller "Swimmingpool" gedreht. Leider hinterlässt auch Pierre Lottin als Vincent Perrin keinen starken Eindruck. Eine weitere Hauptrolle spielen die Bilder. Angefangen beim verwilderten Garten über sorgfältig gestapeltes Feuerholz bis ins Haus, das wie seine Bewohnerin in die Jahre gekommen ist (ist im positiven Sinn).
Fazit
Schon zu Filmbeginn wird von Maria Magdalena gesprochen. Ein eindeutiger Hinweis. Welche der zwei alten Frauen die Sünderin sein soll und worin ihre Sünde besteht, behält das Drama zunächst für sich. Schlussendlich hat das Drama vieles angeschnitten und bleibt unklar. Das große Thema ist die Mutterschaft und damit verbundene Facetten. Der Filmtitel "Wenn der Herbst naht" lässt ein Drama der Rückschau erwarten, stattdessen überwiegen Problemstellungen der Gegenwart. Zudem spielt der Film auch nicht über Wochen, sondern über Jahre hinweg.
Während François Ozon einige Klischees ausspart, nutzt er Visionen und eine rührselige Sterbeszene. Der nahende Herbst dauert ein geschätztes Jahrzehnt an. Ein langer Zeitraum, den das Drehbuch nur bedingt füllt. Die Personen einzuordnen ist nicht möglich, weil die Hintergrundgeschichten fehlen. So bleibt unter anderem das Mutter-Tochter-Drama in der Schwebe. Was andere Filme stärkt, schwächt dieses Drama. Sehenswert ist das Spiel der zwei Hauptdarstellerinnen.
Filmkritik: Thomas Maiwald
Wertung: 60 %
Land: Frankreich
Jahr: 2024
Laufzeit ca.: 102
Genre: Drama
Verleih: Weltkino
FSK-Freigabe ab: -
Kinostart: 28.08.2025
Regie: François Ozon
Drehbuch: François Ozon
Schauspieler: Hélène Vincent (Michelle) • Josiane Balasko (Marie-Claude) • Ludivine Sagnier (Valérie) • Pierre Lottin (Vincent) • Garlan Erlos (Lucas) • Sophie Guillemin (Kapitän) • Malik Zidi (Laurent) • Paul Beaurepaire (Lucas) • Sidiki Bakaba (Priester) • Pierre Le Coz (Brigadier) • Michel Masiero (Bernard) • Vincent Colombe (Doktor) • Marie-Laurence Tartas (Doktorin)
Produktion: François Ozon
Szenenbild: Christelle Maisonneuve
Kostümbild: Pascaline Chavanne
Maskenbild: Franck-Pascal Alquinet • Jean-Christophe Roger
Kamera: Jérôme Alméras
Ton: Brigitte Taillandier
Musik: Evgueni & Sacha Galperine
Schnitt: Anita Roth
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Bild: Weltkino